Erika Weimer las am 17. Juli im Gailschen Park

„Geschichten aus dem Gleiberger Land“
Für den musikalischen Rahmen sorgte Dieter Faust auf der Gitarre

Erika Weimer hat ihren Enkeln selten Geschichten vorgelesen. Meistens sponn sie Erzählungen um die Wörter herum, die ihre Enkel ihr nannten. Probieren Sies mal selber aus. Es geht leichter als Sie denken, und Sie werden sich wundern, welche Phantasie Sie auf einmal haben.

Ähnlich kam Frau Weimer zum Schreiben. Vor etwa 30 Jahren beteiligte sie sich zum ersten Mal an einem Geschichtenwettbewerb der „Gießener Allgemeine“ und hatte Erfolg. Bis Rüdiger Soßdorf ihr vorschlug, aus den Kindergeschichten ein Buch zu machen. So erblickte „Tiergeschichten, die ich meinen Enkeln erzählte“ das Licht der Welt. Viele weitere Bücher folgten, fast in jedem Jahr eines.

Die drei Geschichten, die sie an diesem Abend vortrug, beruhen auf wahren Begebenheiten. Über „Gerrit“ hatte ihr Horst Rückel aus Biebertal berichtet. Die zweite Erzählung handelte von einem Jungen aus der Nachbarschaft, den sie selber nur noch kurz kennen gelernt hatte. Und die dritte verdankt sie einer zufälligen Bekanntschaft in Marienbad vor über 20 Jahren.

„Gerrit – Mein Freund aus Kindertagen“ war der Sohn von Adrian Freiherr van der Hoop und seiner Ehefrau Dorothea, genannt Dodo. Gerrit, geboren 1939, war ein lebenslustiger Junge und befreundet mit zwei Dorfjungen, nämlich mit Horst Rückel und Wilhelm Achenbach. Gerrits Vater war ein „ganzer Kerl“, die Mutter hielt sehr auf Etikette. Nur an Gerrits 6. Geburtstag durften die Freunde ins Haus – und waren überrascht, wie verändert und steif das Geburtstagskind sich im Haus verhielt. Draußen eroberten sie gemeinsam die ganze Umgebung des Hofgutes Schmitte mit Fischteich, Bunker und hohen Bäumen. Beim Drachensteigen im Jahre 1949 fiel Gerrit vom Baum und lag monatelang im Krankenhaus. Er wurde nie mehr gesund. Ein erster Selbstmordversuch missglückte; danach war er auf den Rollstuhl angewiesen. Gerrit verstarb bei seinem zweiten Selbstmordversuch 1963.

Die zweite Geschichte hat mit dem Euthanasieprogramm der Nazis zu tun. Der Junge, um den es hier geht, wurde am 27. August 1934 geboren und wuchs in der Krofdorfer Wiesenstraße auf. 1937 bekam er eine Hirnhautentzündung, wurde schwer behindert und musste durch eine Sonde ernährt werden. Aber dank der Fürsorge der ganzen Familie konnte er nach einiger Zeit wieder selbständig essen und gehen. 1942, die Familie war bei der Gras-Mahd draußen, verschwand der Junge spurlos. Irgendwann erfuhr die Familie, der Junge sei in Scheuern (bei Nassau). Besuchen durfte man ihn nicht. Später kam er zum Kalmenhof *1) in Idstein. Von dort erhielt die Familie am 13. Februar 1943 ein Telegramm, der Sohn sei verstorben und werde am kommenden Montag um 15.15 Uhr beerdigt. Der Vater machte sich sofort auf den Weg – damals ohne Auto sehr umständlich – und schaffte es, den Sohn im Sarg nach Krofdorf zu holen.
Im Kalmenhof wurden monatlich 50 Kinder getötet, nach der Ankunft dort überlebten die meisten nur wenige Tage. Getötet wurden sie durch ein Mittel, das einen natürlichen Tod vortäuschte.

Bei der drietten Erzählung geht es um eine wolgadeutsche Familie. Katharina II von Russland (eigentlich eine deutsche Prinzessin – siehe Theodor Fontane “Celine”) holte vor etwa 250 Jahren deutsche Familien an die Wolga und bot ihnen bessere Bedingungen als sie sie in ihrer alten Heimat hatten. Frau Weimer lernte vor über 20 Jahren in Marienbad Alina Freund aus Altötting kennen. Die Geschichte von deren mehrfacher Vertreibung hat sie aufgeschrieben. Ich gebe sie in Kurzform wieder.
Im 18. Jahrhundert Ansiedlung an der Wolga – über Generationen Weitergabe der deutschen Sprache und des deutschen Brauchtums an die Nachkommen – Der Reichtum war eine große Kinderschar – 1943 wird der Vater zur unliebsamen Person erklärt, die Familie muss die russische Heimat verlassen und wurde nach Neuruppin umgesiedelt. – Der Vater wird zum deutschen Heer einberufen, die Mutter muss alleine für die Kinder sorgen. Wegen der Umsiedlung und Einberufung wähnen sie sich als Deutsche – 1944 wird ihnen Spionage unterstellt, sie müssen Deutschland verlassen – der Vater ist unauffindbar, die restliche Familie wird nach Sibirien transportiert – während Zugfahrt und im ersten Winter starben sehr viele, daher war die erste Baumaßnahme am neuen Ort der Friedhof – 1945 gab es Baustoffe für eine Blockhütte, die Familie richtet sich ein – 1962 wurde die Verbannung von der Wolga aufgehoben, die Menschen durften in die Ukraine zurück, aber es war ihnen verboten, an ihren Geburtsort zurückzukehren. Die Familie war von 12 auf 4 Personen verkleinert- Als es möglich wurde, siedelt man nach Deutschland um. – Am 12. 12. 2001 bekam Frau Freund die deutsche Staatsangehörigkeit “Ich lebe ohne Angst in Frieden und Freiheit.”

Dieter Faust an der E-Gitarre – Rechts die Vorsitzende des Freundeskreises Gailscher Park, Susanne Weber

Dieter Faust spielte unter anderen Lieder von Gilbert O´Sullivan und Bob Dylan. Dylan erhielt 2016 als erster Songschreiber den Literaturnobelpreis. Der Buchhandel protestierte, weil “Lyrik auf CD nicht gedruckt werden kann”.

Geschichte und Geschichten: Erika Weimers Erzählungen an diesem Abend waren die besten Beispiele dafür, wie die „kleinen“ Einzelerlebnisse von der „großen“ Geschichte betroffen sind. Übrigens scheint es im englischen „history“ fast so anzuklingen, wenn man aus history his story macht. (Das Wort Historia stammt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich „Erkundung“ oder „Erforschung“)

Erika Weimer umringt von Dieter Scholz, links und Thomas Prochazka, rechts.
Bei ihnen handelt es sich um den 1. und 2. Vorsitzenden des Fördervereins der Bücherei Biebertal.

Die Bücherei Biebertal hat sieben Bücher von Erika Weimer im Programm. Sie sind noch kein/e Leser/in? Dann sollten Sie es möglichst bald werden. Es gibt über 10000 Bücher in den Räumen der Schule am Bornberg in Rodheim. *2)

*1)https://www.idstein.de/tourismus/baukunst-geschichte/geschichte/besondere-orte/kalmenhof/

*2)https://www.buecherei-biebertal.de/